Fangen wir sofort an. Was man braucht, ist ein abschließbarer Raum, nicht stickig oder gruselig; kein Kellerraum, der an einen Kindermörder denken lässt und kein gespenstischer Dachboden, sondern ein Labor mit guter Akustik, weichen Teppichen und Kissen in den Ecken. Es gibt Puppen und Bausteine, Videospiele und Kinderbücher, aber auch Hämmer und Nägel, Globen, Nachschlagewerke, Fernsehgeräte mit kostenpflichtigen Sendern. Alles ist da, aber nichts ist zu sehen. Es wird nämlich dafür gesorgt, dass kein Tageslicht in den Raum fällt. Lampen gibt es zwar, aber keine Lichtschalter.
In das Labor werden Kinder gebracht. Fünfjährige und zehnjährige Kinder. Zwölfjährige und sechzehnjährige Kinder. Und auch noch eine Siebzehnjährige, um zu sehen, was dabei herauskommt. So beginnt unser Experiment. Wir werden etwas tun, was getan werden muss. Es wird uns stöhnen und schwitzen lassen, aber wir werden auch viel lernen, so dass wir nicht davor zurückschrecken: Wir werden sie in das Leben einführen, die Kinder, wir werden tun, was schon seit Generationen getan wird.
Eine Wand des dunklen Raumes ist verglast. Hinter dieser Wand sitzen wir, die Erwachsenen, die wir uns entschieden haben, an dem Experiment mitzuarbeiten, weil wir ein überdurchschnittliches Interesse an Kindern und ihrem Wohlergehen haben. Sie kennen diese Art Glas, wir sehen sie, aber sie sehen uns nicht. Übrigens sehen sie überhaupt nichts, sie sitzen im Dunkeln.
Wir haben die Lichtschalter. Wir entscheiden, wie viele Lampen brennen. Und wir sind wohlwollend. Es ist nicht unsere Absicht, die Kinder lange im Dunkeln zu lassen, so sind wir nicht. Sobald alle Platz genommen haben, geht das Licht an. Nicht zu viel, das wäre schlecht für die Augen. Eine kleine Lampe mit der Leuchtkraft eines Teelichts, so dass ein wenig von der Umgebung zu sehen ist. Die Kinder bewegen sich auf das Licht zu, sobald es angeht, das ist offensichtlich. Und so bekommen wir sie auch etwas zu Gesicht.
Die Absicht ist, nach Methoden zu suchen, um die Kinder aufzuklären; sie auf das 'große' Leben vorzubereiten, das sie erwartet. Wir könnten dies auch tun, indem wir eine Schultafel aufhängen und uns mit einem Stück Kreide in der Hand vor sie stellen, aber wir wollen es anders machen. Wir suchen nach dem indirekten Ansatz, dem weniger verschulten; wir entscheiden, dass sie etwas aus einem Film oder einem Buch lernen statt aus einer langweiligen Unterrichtsstunde.
Aber zuerst diskutieren wir natürlich darüber. Wir Erwachsenen sprechen darüber, was sie ausmacht, diese Lebewesen hinter dem Glas im Lichtschein.
"Sieh wie anders sie sind", sagen wir, "sie sind unschuldig. Sie sind unerfahren. Sie sind klein. Sie sind schwach. Sie brauchen Schutz. Und wie chaotisch sie sind. Wie viel Mühe es ihnen macht, sich selbst zu organisieren und ihrem Leben eine Struktur zu geben. Sie wissen noch so wenig. Sind wir auch so hilflos gewesen?" Einige von uns greifen sofort zum Skizzenblock und beginnen zu zeichnen. Andere schreiben Wörter auf ein Blatt Papier. Es entwickeln sich schöne Dinge. "Sie leben ganz im Hier und Jetzt und nutzen den Tag." So viel Kindlichkeit macht uns alle ganz poetisch.
"Mach doch mal etwas mehr Licht", sagt jemand, "dann können wir schauen, was passiert."
Ein zweiter Schalter wird betätigt. Es wird heller, ungefähr so hell wie zwei Teelichte. Wir drücken die Nase gegen die Scheibe: "Sieh mal, wie spielerisch!", sagen wir. "Wie viel Phantasie sie haben! Aber auch eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. Sie können nicht viel aufnehmen, sicher, und ihr Vorwissen ist klein. Nur gut, dass sie das alles nicht wissen. Sie wirken so glücklich."
So geht das Experiment eine Weile weiter. Es ist unsere Absicht, ein für allemal herauszufinden, wie wir Kinder am besten an die Welt der Erwachsenen heranführen können. Aber die Situation läuft schnell aus dem Ruder. Auf der Seite der Erwachsenen kommt Uneinigkeit auf. "Sie brauchen mehr Licht", sagen einige. "Sie sehen die Hälfte nicht, und so gelingt es ihnen nicht, Einsichten zu gewinnen und Verbindungen zu erkennen."
"Gerade nicht", rufen die anderen, "mehr Licht, dafür sind sie noch nicht bereit. Dann sehen sie zu viel, und dann sind sie verwirrt. Mehr Licht muss für die Kleinen verboten werden. Die Schalter müssen entfernt werden."
"Wieso entfernt?", ruft jemand böse. "Was glauben wir, wer wir sind?"
"Wir sind die Erwachsenen", lautet die Antwort. "Wir haben Erfahrung. Wir waren schon Kinder, darum wissen wir, was gut ist. Wir sind hier, um sie zu beschützen. Wenn wir das nicht tun, tut es niemand."
Die "Wohlmeinenden" unter uns merken an: "Seid nicht so nörgelig. Seht doch, was sie machen. Sie spielen. Sie stellen die Welt auf den Kopf. Jedes Mal hinterlassen sie Spuren. Sie haben ihre eigene Logik. Sie ziehen waghalsige Verbindungen, von denen Künstler lernen können. Sie haben Vertrauen in das Leben. Sie konfrontieren uns mit dem, was wir längst vergessen haben. Sie haben ihre eigene Wahrheit, die soviel reicher ist als unsere. Wir müssen alles in unserer Macht stehende tun um zu verhindern, dass sie so werden wie wir." Dieselben "Wohlmeinenden" legen ihre Hände gegen die Scheibe. Sie suchen nach einer Möglichkeit, das Fenster zu öffnen. "Weg damit", brummen sie. "Wir müssen eine wirkliche Beziehung zu ihnen aufbauen, anstatt so zu tun, als seien sie Tiere in einem Käfig."
Das Gezänk der Erwachsenen ist nicht das einzige, was zum Scheitern des Experiments führt. Auch die Kinder haben ihren Anteil daran. Es beginnt unschuldig: Sie piesacken einander, streiten sich, eines fängt an zu heulen. Die "Wohlmeinenden" streckten die Hände schon zum Fenster aus und sind dann auch die ersten, die gegen das Glas klopfen und rufen: "Benehmt euch nicht so kindisch, zeigt, dass ihr groß seid."
Das Klopfen gegen die Scheibe lässt die Kinder aufschrecken. Dass sie beobachtet werden war ihnen nicht bewusst. Augenblicklich wird es still im Labor. Angesichts so viel Beobachtung beruhigen sich die Kinder. Wir Erwachsenen entspannen uns; wenn es den Kindern gut geht, geht es uns gut. Mehr Licht oder weniger, darüber werden wir uns nicht mehr streiten: Wenn wir zu viel Lärm machen, hören uns die Kinder, und wir wollen doch ein gutes Vorbild sein. Ein Experiment dieser Art wollen wir sorgfältig durchführen. Erziehen heißt in Humankapital zu investieren, eine Anlage mit langer Laufzeit, eine Absicherung für die Zukunft, nicht nur für die ihre, sondern auch für die unsere.
Jetzt, wo die Kinder von unserer Anwesenheit wissen, beginnen sie zu flüstern. Ab und zu sagen sie noch etwas laut, aber sie achten genau darauf, was sie uns hören lassen. Sie stapeln die Kissen, die wir für mehr Gemütlichkeit bereitgelegt haben, zu einem Turm vor der Glaswand auf. Nach einiger Zeit können wir nur noch durch kleine Spalten hindurchsehen.
Wir begreifen, dass sie gegen uns rebellieren. Und so gehört sich das natürlich auch. Es wird still hinter den Kissen, und das akzeptieren wir. Man muss Kinder dann und wann gewähren lassen. Das brauchen sie, das wissen wir aus unserer eigenen Jugend.
Plötzlich dringt Brandgeruch zu uns hinüber. Sie hecken etwas aus, aber wir wissen nicht was, weil sie dicht nebeneinander im Kreis stehen und uns den Rücken zuwenden.
"Macht das Licht an", ruft einer der Erwachsenen, aber dafür ist es schon zu spät. Sie machen selber Licht. Eins der Mädchen raucht, damit haben wir bei der Planung des Experiments nicht gerechnet, und sie hat ein Feuerzeug dabei. Ein kaum zwölfjähriger Junge hält die Ecke eines Kissens in die Flammen. "Wir machen ein Feuer", johlen sie, "dann haben wir Licht und können etwas sehen."
Das Experiment Geht glimpflich aus. Niemand wird verletzt. Viel Rauch und ein Brandgeruch, der noch Wochen in der Luft hängt, nicht verwunderlich in einem Raum, der so sorgfältig abgedichtet war. Die erstellten Videoaufnahmen wurden in dem Durcheinander durch die Kinder unbrauchbar gemacht. Das einzige, was erhalten blieb, sind die Dinge, die die Erwachsenen in der Eile mitnahmen: ihre Notizbücher und Aufzeichnungen.
Und siehe da, auf Grundlage davon kann man aus dem Experiment doch noch etwas lernen. Es waren schließlich Erwachsene mit unterschiedlichem Hintergrund. Es waren Pädagogen dabei, die sorgfältig dokumentiert haben, wie die Entwicklungsbedingungen verbessert werden können. Es waren Erzieher dabei, die gute Geschichten erzählen konnten und die ein paar Ideen für Kinderbücher mit einer eindeutigen Moral notierten. Aber es waren auch aufgeklärte Geister dabei, Künstler, die an dem Experiment nur teilgenommen hatten, um etwas daraus zu lernen und die mit den Kindern nichts anderes im Sinn hatten, als etwas Schönes in Form einer Geschichte entstehen zu lassen. Von all dem Gekrakel und Gekritzel wurden ihre Aufzeichnungen am gründlichsten studiert; Künstler sind schließlich interessant.
Und was lernen wir daraus? Als man rief: "Wie unerfahren sie sind", haben sie Geschichten geschrieben, aus denen Kinder lernen können, wie das Leben funktioniert.
Als man rief: "Wie unschuldig sie sind", haben sie Welten erschaffen, die der echten gleichen, aus denen aber alles Böse verschwunden ist.
Als man rief: "Sie wissen noch so wenig", haben sie es gewagt, neue Themen anzuschneiden ohne das Lesen der Geschichte durch fehlende Vorkenntnisse zu erschweren; neue Begriffe haben sie also genau erklärt. Realistische Geschichten waren das, angelehnt an das Leben, und natürlich auch mit einem Problem.
Als man rief: "Sie müssen beschützt werden", haben sie alles über Sex und Tod wieder aus ihren Geschichten herausgestrichen.
Als man rief: "Wie verwirrt sie wirken", haben sie das Aussehen ihrer Figuren genau beschrieben: Die Protagonisten gewöhnlich, aber voller Tatendrang, die Antagonisten eher ungewöhnlich, und der böse Antagonist wurde mit einem Buckel oder einer Warze ausgestattet.
Als man rief: "Sie sind schwach", haben sie den Hauptfiguren einen Zauberstab gegeben, ein Zeichen der Auserwähltheit auf der Stirn oder ein sprechendes Tier an der Seite.
Gegen Ende werden die Aufzeichnungen der Künstler immer unleserlicher, vermutlich waren zu diesem Zeitpunkt die Kissen vor dem Fenster schon hoch aufgestapelt. Jemand schreibt noch eine freche Geschichte mit einem egoistischen Kind als Identifikationsfigur. Jemand anderes notiert Wörter wie 'cool', 'fett' und 'mega-krass-geil'. Ein anderer beschreibt ausführlich, wie ein Schüler seine Lehrerin fingert, bestimmt für die Siebzehnjährige, um nicht den Kontakt zur anderen Seite der gläsernen Wand zu verlieren.
Weil das Experiment aufwendig und teuer war, ziehen wir aus den Beobachtungen doch ein paar Schlüsse. Dies ist, was hängen bleibt. Was wir für Kinder tun, wie wir uns ihnen nähern, was wir ihnen erzählen… wird durch unsere Sichtweise auf sie bestimmt. Ob unsere Geschichte die Unschuld des Kindes beweist oder widerlegt, das Kind beschützt oder bloßstellt, den Leser aufklärt oder belügt, hängt davon ab, wie wir Kinder sehen. Wir haben schon lange festgelegt, was für Kinder gut ist, was sie brauchen (Sicherheit, Beruhigung, Abenteuer, Experimente, Aufklärung, Entspannung, Deutlichkeit) und von da aus nähern wir uns ihnen. Wir unterscheiden nicht immer deutlich zwischen dem, was Kinder brauchen und dem, was wir als notwendig erachten. Wir sind davon überzeugt, dass dies das gleiche sei, aber es gibt ebenso Menschen, die behaupten, Kinder bräuchten Disziplin, Zucht und dann und wann eine Tracht Prügel.
Die erste Fassung meines Debüts Mijn tante is een grindewal1 endet, als die Hauptperson Anna herausfindet, dass die Antagonistin Tara von ihrem Vater missbraucht wurde. Das war's, das Geheimnis war offen gelegt, Ende der Geschichte. Als ich das Buch nach anderthalb Jahren erneut las und mit Hilfe einiger Berater überarbeitete, war ich der Meinung, ich könne das nicht machen, den Leser so im Dunkeln lassen. Ich schrieb damals ein zweites Ende für das Buch, die Geschichte des Genesungsprozesses des traumatisierten Kindes.
In Vallen2, meinem zweiten Roman, fand ich es wichtig, dass die Leser die Geschichte nicht nur wegen der Frage: "Warum verliert die Figur Caitlin ihren linken Fuß?" lesen, sondern auch, weil ich selbst in Berührung mit rechtsextremer Rhetorik gekommen war und den Lesern meine Erkenntnisse über die dahinter stehenden Mechanismen mitteilen wollte.
In beiden Fällen veranschaulichen meine Motive meine Vorstellung vom Kind. Im ersten Buch sah diese so aus: Kinder sind verletzlich, müssen nach jeder Verletzung getröstet werden. Im zweiten: Jugendliche sind beeinflussbar, darum müssen sie über die rhetorischen Tricks der Menschen, die Macht über sie erlangen wollen, aufgeklärt werden.
Weder Künstler noch Schriftsteller können ihrer eigenen Vorstellung vom Kind entkommen. An sich ist das kein Problem. Ohne Vorstellung vom Kind ist Kinderliteratur unmöglich, und das Konzept 'Kind' haben wir doch entwickelt, um auf die Gruppe Menschen einzugehen, die wir als Nicht-Erwachsene abstempeln. Meiner Meinung nach muss sich ein Schriftsteller nicht bis ins kleinste Detail seiner eigenen Vorstellung vom Kind bewusst sein. Überlassen wir das den Geschichtsschreibern und Soziologen, die werden die Prinzipien schon enthüllen.
Aber unser Experiment von eben ging schief. Eine wirklich schöne Erziehungssituation haben wir im Labor nicht schaffen können. Was lief falsch? Wenn es nicht an unseren Vorstellungen vom Kind liegt, was waren dann die Störfaktoren? Was ist es, das die Forscher, die das Experiment planten, den anwesenden Erwachsenen vorwerfen können? Folgendes natürlich: Wir dachten, es läge an der Sichtweise, es käme nur darauf an, wie Kinder gesehen werden, aber wir übersahen, dass auch die Kinder uns sehen. Vielleicht sind wir deswegen immer gerade eben zu spät, haben sie schon den Trend der Sicht umgedreht, während wir die Nachhut der Winterschläfer formen, die zu spät aufgestanden sind.
Wir selbst sind als junge Leser an den Gedanken gewöhnt worden, dass es die Erwachsenen sind, die es vermasseln. Peter Pan läuft am Tag seiner Geburt von zu Hause weg, weil er seine Eltern an seiner Wiege darüber sprechen hört, wie es sein wird, wenn er groß ist. Er will nicht groß werden. Jesus erklärt, dass wir, wenn wir nicht werden wie die Kinder, nicht in das Reich Gottes hineinkommen werden. Erwachsen zu werden ist nicht erstrebenswert, man verschiebe es besser, und wenn man es aber doch werden muss, dann am besten unter Beibehaltung der Kindlichkeit. Das Kind ist die Norm, der Erwachsene der Antagonist. Und der Autor bewegt sich zwischen beidem, auf der Suche nach der verlorenen Einheit.
Das ist das romantische Bild, das salonfähige, das bonmot eines jeden, der der Kinderkultur gewogen ist. Dennoch sind wir alle ebenso davon überzeugt, dass Kinder wachsen müssen. Sie müssen lernen, sie müssen Fähigkeiten erwerben, ihren Platz in unserer Welt finden. Das ‚Kindische’ muss abgelegt werden. Diese gegensätzlichen Kräfte durchkreuzen abwechselnd unseren Diskurs. Auch das ist an sich kein Problem. Es gibt viel Platz im Kopf eines Menschen, auch für total gegensätzliche Auffassungen. Das Problem ist nur, dass wir träge sind. Kurven verschieben sich, Auffassungen verändern sich, aber unsere Debatten drehen sich weiter um dieselben Dinge.
Unsere modernen Erziehungsgrundsätze von Einspruch und Teilhabe tragen Früchte. Sie sind mündig geworden, unsere Kinder, genau so, wie wir das gerne wollten. Sie erwidern den Blick, die Spiegelfarbe auf der Scheibe zwischen unserer und ihrer Welt haben sie weggekratzt. Langsam, aber sicher machen sie den Erwachsenen zum Opfer und werden selbst zu Antagonisten der Erzählung. Nun halten sie uns einen Spiegel vor und zwingen uns hineinzusehen. Ein Spiegel ist ein praktisches Ding, wenn es darauf ankommt zu sehen, dass man älter wird.
Im Spiegel sehen wir, wie wir wirklich über Kinder denken. Das Kind ist abweichend, also bedrohlich. Es verursacht ein unartikuliertes und unbestimmtes Chaos. Es wird uns von unserem Thron stoßen, uns ersetzen und uns vergessen. Es kann gut sein, dass es eine schöne, goldene Zukunft herbeiführt, aber hauptsächlich für sich selbst. Es will besser werden als wir, weniger bürgerlich, ökologischer, weniger machtsüchtig.
Der Spiegel zeigt darüber hinaus, dass diese Vorstellung vom Kind auch unseren Umgang mit ihm bestimmt: Wir idealisieren das Kind noch immer, aber ausschließlich mit dem Ziel, es zu neutralisieren, es als Bedrohung für unsere feste Ordnung unschädlich zu machen. Denn noch immer sind wir diejenigen, die die Regeln bestimmten. Wir normieren weiter, und wir finden, dass das unser gutes Recht ist. Wir treten auf der Stelle, wir wiederholen unsere alten Redensarten und wählen zum x-ten Mal dieselben Themen für unsere Diskussionsrunden, wie jüngst noch in Brüssel mit renommierten Kinderbuchautoren wie Carl Norac, Joke van Leeuwen, Jürg Schubinger und kurz davor während des Salon du Livre in Paris: Darf man Kindern und Jugendlichen alles erzählen, oder gibt es Grenzen? Ist es nicht unsere Pflicht, sie vor dem hellen Licht zu beschützen?
Wenn die Beteiligten die Regeln bestimmten, sind die Regeln verdächtig. Ist das Kind überhaupt noch machtlos? Bittet es mit seiner neuen Mündigkeit überhaupt noch so nachdrücklich um Schutz, Sicherheit, Beruhigung, Deutlichkeit, Aufklärung, Entspannung… , oder machen wir uns das selbst weis? Wenn wir über die Fünfzehnjährigen reden, sind wir schon weniger entschieden, aber wir sehen auch, dass sich die Altersgrenze verschiebt: Die Unabhängigkeit kommt immer früher und die Macht immer eher (ich sehe es in Familien in meiner Umgebung: Kinder wählen den Fernsehkanal, sie beschließen, was gegessen wird – Lasagne! – und wie das Wochenende verbracht wird. Meistens sind es gesunde und interessante Machtverhältnisse, in denen die Kinder mal den Ton angeben und dann auch mal wieder nicht, genauso wie es auch unter Erwachsenen geschieht; ich liebe es, das zu beobachten, aber warum reden wir nie darüber? Warum reden wir nicht über den Blick, der erwidert, viel kräftiger, viel zwingender und in jüngerem Alter als früher. Dass Kinder zurückblicken war bestimmt schon immer so, aber unsere Zustimmung, das zu tun – zurückzublicken, Widerworte zu geben, zu sagen „Wenn Papa später nach Hause kommen darf als vereinbart, dann darf ich das auch“, Kleider zu tragen wie wir, in technisches Spielzeug zu investieren wie wir, im passenden Moment ihre Privatsphäre einzufordern wie wir – ist neu. Vielleicht sollten wir darüber einmal sprechen, über die Kinder, die uns betrachten und uns sehen, und was sie dabei wohl sehen?).
Gestatten Sie mir, eine Skizze des heutigen Kindes zu geben, wobei ich mir bewusst bin, mit den Scheuklappen meiner eigenen sozialen Schicht zu sehen: Ich sehe Kinder, die alles haben. Sie haben das nötige Spielzeug, einen Ort zum Wohnen, eine Schule, liebende Großeltern, Geburtstagsfeiern, Ausflüge in einen Vergnügungspark oder einen Wald, eine Reise im Sommer und vielleicht auch eine im Winter, ein Bett voller Kuscheltiere, in späterem Alter einen Tisch mit einem Computer und ein Bücherbord.
Ostentative Geringschätzung des Kindes ist in dem Milieu, das ich überblicke, nachgerade verschwunden. Sie verlagert sich, nicht auf die Erwachsenen im Allgemeinen, sondern auf die Eltern. Ich spüre es, wenn ich mit meinen Kindern einen Spielwarenladen betrete. Wenn sie zu viel Krach machen und Dinge an sich reißen, bekomme ich die bösen Blicke, nicht die Kinder, denn die können nichts dafür. Wenn ich den Laden nur mit einem Geschenk für einen Nachbarsjungen, der Geburtstag hat, verlasse, und nichts für meine protestierende Fünfjährige mitnehme, dann betrachtet man mich als Rabenmutter, zu geizig, die Mutterschaft zu verdienen, und die Kassiererinnen legen all ihre Kreativität an den Tag, um unter der Theke doch noch etwas zu finden, das sie verschenken können.
Es ist etwas geschehen, beziehungsweise es geschieht gerade: Es ist eine angenehme Welt für Kinder geschaffen worden. Sie sind nach Tausenden von Jahren der Unterdrückung in einer ziemlich kindgerechten Gesellschaft angekommen. Es sind ihnen Rechte verliehen worden, Möglichkeiten, Einspruchsorgane. Eine eigene Kultur, eine eigene Mode, eigene Fernsehprogramme, Popgruppen, Theaterstücke…
So etwas hat Folgen. Wenn man Kindern weiterhin erzählt, dass sie mitzählen, selbst wenn das nur ein Lippenbekenntnis ist, dann werden sie ihre Macht gebrauchen. (Viel können sie allerdings nicht erreichen, denn ihre Macht ist in erster Linie ein Versprechen, etwas, das nie realisiert wird und worüber vor allem viel geredet wird, ein wenig so wie Wahlversprechungen. Vor vielen Jahren hat Guus Kuijer in seiner Essaysammlung Het geminachte kind [Das geringgeschätzte Kind] auf bestürzende Weise bewiesen, dass wir Kinder nicht achten. In dieser Hinsicht ist kein Fortschritt gebucht worden. Kuijers Essaysammlung ist noch immer so aktuell, als sei sie heute geschrieben worden. Nur in Bezug auf den Diskurs über das junge Völkchen hat sich viel verändert.)
Eine Folge ist, dass sie Widerworte geben. Sie stellen sich uns direkt gegenüber und betrachten uns. Diese Veränderung ist von uns Erwachsenen kaum wahrgenommen worden. Wir hätten schon längst aufhören müssen, darüber nachzudenken, was junge Menschen nötig haben, und uns schon vor Jahren die Frage stellen müssen: Wohin geht ihr Blick? Was sehen sie, aber auch: Wohin sehen sie? Kinder sind neugierig. Sie hungern nach Information; auch und vielleicht gerade über die zwei Themen, die wir schon immer zu heikel für sie fanden: Sex und Sterben.
Sie schauen in ihrer Suche nach Antworten auf uns, wir haben ihnen den Eindruck vermittelt, dass das möglich sei, dass wir dabei seien, eine Gesellschaft zu erschaffen, in der sie Rechte hätten, auch das Recht auf Antwort. Aber als sie sich uns zuwandten, war das erste, was sie sahen, eine Schalttafel mit Schaltern, die für sie unzugänglich waren. Sie bekamen Erwachsene zu sehen, die mit den Lichtschaltern herumstümpern. Sie begriffen, dass wir sie über vieles im Dunkeln ließen, dass sie die ganze Zeit nur eine Auswahl von dem, was das Leben mit sich bringt, zu sehen bekommen hatten: Hoffnung, Trost, Glaube an Wachstum und Fortschritt wurden für sie belichtet. Verzweiflung hingegen, Fassungslosigkeit, Aussichtslosigkeit und Trostlosigkeit blieben fachkundig unterbelichtet.
Unterbelichtung des Zweifels kombiniert mit materiellem Überfluss führt zu einem Weltbild des Zauberstocks: zum Glauben, dass man mit Willenskraft die Faktoren, die im Weg stehen, beschwören kann und dass man mit strategischer Einsicht und Durchsetzungsvermögen so gut wie alles erreichen kann. Unsere Kinder sind total disneyfiziert. Sie glauben an die Machbarkeit des Lebens und sind davon überzeugt, dass Misserfolg Schwäche ist. Gute Absichten genügen schon, gute looks sind ein Bonus, Gutsein eine Eigenschaft, die man hat und behält – genauso wie Schlechtigkeit übrigens.
Dieses Weltbild, das tatsächlich nicht nur aus Amerika herübergeweht ist, sondern schon Jahrhunderte lang dem europäischen Kontinent eigen ist, das ist es, was sie gesehen haben, als sie uns betrachteten. Sie haben gesehen, wie wir Erfolg belohnen, uns selbst darstellen, wie wir Status erwerben, wie wir Leere kompensieren. Das lehrt sie schon in jungem Alter Herablassung gegenüber losern. Sie, die Erfolg haben und sich behaupten, zeigen Geringschätzung dem gegenüber, dem das nicht gelingt. Sie haben kein Verständnis für den, der sein Leben nicht in den Griff bekommt. Als ob das nicht genug wäre, sind ihre eigenen Momente der Schwäche für sie oft so enttäuschend, dass sie sich selbst wertlos fühlen.
„Verwöhnen“ hat schon seit einiger Zeit nicht mehr den negativen Beiklang, den es früher hatte. Man verwöhnt sich selbst mit einem warmen Bad und einander mit einer Massage. „Verziehen“, das Wort, das meine Großmutter gebrauchte, kann uns hier vielleicht kurz wieder dienen, obwohl es abscheulich klingt. „Verziehen“, das heißt dann nicht nur: Kinder mit materiellen Gütern zu überladen, sondern auch: sie nicht an die Grenzen des Machbaren zu erinnern. Wenn wir keine Reibung zulassen, wenn wir es bei dem belassen, was ein Kind schön und lieb findet, was glücklich macht und keine Schlafstörungen verursacht, verhalten wir uns wie Kinderverführer, die nicht zur Selbstanalyse fähig sind. Wir führen sie zu dem hin, was wir nicht erstrebenswert fanden, weil es verachtenswert war: das bürgerliche Erwachsensein, das bereits im neunzehnten Jahrhundert von Rousseau geschmäht wurde und nun, in einer Ära intensiven neoliberalen Denkens, noch engherziger ist. Und wir übersehen die Wichtigkeit der Frustration, der fruchtbaren Enttäuschung, die man erfährt, wenn man an seine eigenen Grenzen stößt und die Wahl hat, sich zu schonen oder sich Schmerz zuzufügen, um die Grenze zu überwinden. Kinder geistig zu behüten oder abzuschirmen wird gleichermaßen zu Aufsässigkeit und zu Generationskonflikt führen (und dagegen hatten wir nichts, das fanden wir ganz normal, man denke nur daran, wie wir selbst waren). Aber der Aufstand wird im sterilen, ziellosen Anzünden von Kissen stecken bleiben, wie wir es während unseres Experimentes im Labor erlebt haben. Der Widerstand wird nicht genug Nahrung haben, um wirklich subversiv zu werden, groß genug um das bestehende System zu verändern und/ oder zu verbessern. Er wird in einer bürgerlichen Form der Rebellion stecken bleiben, harmlos, weil er zeitlich begrenzt ist und keinen echten Einsatz fordert. Das werden wir nur uns selbst zu verdanken haben. Einem Kind auf seine Fragen zu antworten ist eine Sache, eine ganz andere ist es, Antworten auf Fragen zu geben, die es (noch) nicht gestellt hat.
„Ist es das, was wir tun werden?“, höre ich Sie fragen. „Werden wir gewichtig daherkommen? Werden wir Kinder frustrieren? Werden wir sie mit unserem glänzenden Unglück behelligen und zu den Problembüchern der Siebziger zurückkehren? Waren wir nicht gerade auf der Suche nach Glück für unser eigen Fleisch und Blut?“ Leute mit Lebensklugheit sagen: Glück kann man nicht erstreben. Man kann es nicht suchen, weil es kein eigenständiges Gut ist. Es ist ein Nebenprodukt von etwas anderem, die Nebenwirkung einer Reihe von Dingen, die Menschen mit wechselnder Häufigkeit und Intensität begegnen, als da sind: ein Zeichen des Erkennens, ein Gefühl des Gelingens, ein Moment der Einsicht.
Es gibt Leser, für die es wichtiger ist, bei einem Buch weinen als lachen zu können, sogar Kinder. Ich muss es wissen, denn ich war so ein Kind. Ich wollte gewichtige Dinge. Spaß sorgte bei mir für ein Gefühl der Leere. Einsicht erwerben konnte ich besser mit einem traurigen Buch als mit dem Besuch eines Vergnügungsparks. Ich wollte kein Vergnügen, es machte mich niedergeschlagen. Lesen über Unglück verschaffte mir Einsicht. Es erhob mich.
Auch jetzt noch, als erwachsene Leserin, ist für mich etwas ganz anderes als eine erfreuliche Botschaft nötig, um mich glücklich zu stimmen. „Wie schön!“, muss ich denken können, „Wie wahr! Wie echt! Wie interessant!“
Interessant ist das, was widerstrebend ist, was anders schmeckt als erwartet, was mich aufschreckt oder – ja, sicher – laut auflachen lässt. Interessant ist Komplexes, Vielschichtiges, was etwas anderes ist als Mühsames und Verwickeltes. Es ist immer widerspenstig, mag die Widerspenstigkeit auch gehörig leichtfüßig sein. Interessant ist die Erzählform, die keinen Gefühlskonsens erzwingt, die, mit anderen Worten, nicht daran denkt, Gefühl A zu diktieren und Gefühl B auszuschließen, sondern verschiedene Optionen offen lässt. Es ist ein Text, der mich auf mich selbst zurückwirft, anstatt mich flügellahm mitzuführen, in dem nicht steht, was da steht, sondern vor allem, was da nicht steht, und der die Buchstaben und Wörter sichtbar macht, anstatt sie unter die Erzählung zu kehren.
Was mich dann erhebt, ist, denke ich, der Eindruck, dass ich ein klein wenig näher an eine neue Wahrheit herankomme und dass ich nicht die einzige bin, die sucht.
Aber ist es das, was der Autor vor Augen hat, wenn er schreibt? Rackert er sich ab, um Einsicht zu verschaffen, verwendet er all seine Kräfte, um Wahrheiten zu finden? Ich werde Ihnen ein für allemal enthüllen, was Autoren tun, wenn sie Texte verfassen. Es nimmt dem Ganzen den Glanz, erschrecken Sie also nicht, aber ein Songschreiber hatte vor kurzem den Mut, es im Radio zu erzählen, und seitdem wage ich es auch. „Wenn ich mit dem Schreiben eines Liedes beginne“, sagte der Mann, „frage ich mich nicht: welche Wahrheit will ich verkünden, denn das kann ich mir nicht erlauben. Ich frage mich vor allem: Was reimt sich auf den vorherigen Vers? Wenn ich dann einen Reim finde, in dem ich einen Hauch von Wahrheit entdecken kann, bin ich schon zufrieden.“
Ähnlich sieht es auch bei uns aus: Wir schaffen eine eigenständige Welt, losgelöst vom Rest. Wir lassen uns nicht durch unser Wissen binden, wir begeben uns auf die Suche nach dem, was wir noch nicht wissen und dieses Suchen bestimmt den Schreibprozess. Zu folgen hat: die innere Logik der Erzählung. Alles ist möglich und ebenso sein Gegenteil. (In De Roos en het Zwijn3, meinem vorletzten Buch, bekommt die Hauptperson Rosalena am Ende Siamesische Zwillinge. Menschen kommen auf mich zu und sagen: Sie hantieren solche streng religiösen Normen, Sie sind wohl eine Jansenistin! Sie lassen Rosalena mit ihren Schwägern schlafen, und dann wird sie mit einer Missgeburt bestraft. Ich erschrecke mich zu Tode, wenn das jemand zu mir sagt. Ich wollte es Rosalena möglichst schwer machen, ihr Kind zu ihrem Geliebten mitzunehmen, und Siamesische Zwillinge passten mir da gut. Ich fragte mich nicht, was meine Wahrheit bezüglich des Fremdgehens mit den eigenen Schwägern war, ich war mit der Erzählung beschäftigt).
Dies ist ein Eingeständnis von Schwäche, dessen bin ich mir bewusst. Aber Schwächlinge sind wir deshalb noch lange nicht. Unsere Schlagkraft liegt woanders. Weil wir die Sprache festhalten, können wir sie demontieren. Wir verbiegen sie, bis die Gegensätze getarnt sind. Eine unwahrscheinliche Geschichte, unlogisch oder unrealistisch, schmücken wir mit Worten, bis sie vollkommen 'wahr' ist. Die Fabel verliert ihre Verlogenheit durch die Schönheit, mit der sie erzählt wird. Eine Geschichte aufzubauen ist sehr eng damit verwandt, eine Geschichte Baustein für Baustein auseinander zu nehmen. Wir breiten die unterschiedlichen Elemente vor uns aus und erkennen, dass wir es jetzt, da alles in kleinen Teilen vor uns liegt, auch nicht mehr so genau wissen. Es entsteht der Wunsch, uns selbst zu widersprechen. Auffassungen, die in verschiedene Richtungen gehen, werden hübsch angekleidet und treten zivilisiert miteinander in Kontakt. Im Kopf eines Autors ist schließlich genug Platz für verschiedene Standpunkte, sogar genug für widerstreitende. Unsere Sprache ist eine Nebelwand, Diffusität unsere einzige Waffe gegen die eindeutigen Botschaften, die das System und die Fernsehsender verbreiten.
Einem Leser ein Buch anzubieten, heißt auch, ihm Unannehmlichkeiten zu bereiten. Man nimmt ihm die Sicherheit, dass er jemals genau herausfinden wird, was man mit dem Geschriebenen gemeint hat. Jede Figur hat ihre eigene Wahrheit, für die des Lesers ist auch noch Platz. Auf diese Weise werden der Akt des Schreibens und der Akt des Lesens zu Momenten der Reflexion. Sie sind die symbolische Schweigeminute an der Seitenlinie des ökonomischen Konkurrenzkampfes.
Ich plädiere nicht für eine Rückkehr zu Problembüchern mit einer eindeutigen Moral. Ich plädiere für vorsichtige, unentschlossene Aussagen, die flexibel sind, sogar schwer nachzuvollziehen. Die Einschränkung des Autors wird zu seiner Devise. Verhalte dich so wie ein Fuchs, hinterlasse mehr Spuren als nötig, sagt Wendell Berry, gehe bewusst den falschen Weg, mache hier und da ein Täuschungsmanöver.
‘As soon as the generals and the politicos
can predict the motions of your mind,
lose it. Leave it as a sign
to mark the false trail, the way
you didn’t go.’
Oder, frei übersetzt:
‘Sobald die Generäle und die Politiker
erfolgreich die Windungen deines Verstandes vorhersagen können,
verliere ihn, hinterlasse ihn als ein Zeichen,
um den falschen Pfad zu markieren, den Weg,
den du nicht gegangen bist.’
Bücher, die Geschmeidigkeit erfordern, trainieren die Leser, anstatt sie zu erziehen. Sie üben ein in einen Modus des Nachdenkens, des kritischen Betrachtens, des Querdenkens und des unkonventionellen Interpretierens. Und ist es nicht das, was wir alle wollen: subversive Kinder, die das Erwachsensein in Frage stellen und es, wenn sie aufwachsen, neu und anders ausfüllen?
Wenn mich jemand fragen würde, was mich am meisten fasziniert, würde ich wahrscheinlich sagen: die Veränderung des Lichteinfalls. Das finde ich am schönsten. Wie sich das Licht mit den Jahreszeiten verändert, was Abblendlichter mit einem Zimmer anstellen, und ein Abend mit einer Straße oder einem Horizont. Wie anders ein Raum auf einmal aussieht, wenn eine der Glühbirnen durchgebrannt ist oder das Küchenfenster, nachdem der Nachbar seine Hecke gestutzt hat.
Schreiben hängt für mein Gefühl nie von der Menge Licht ab, die gewährt wird, wohl aber von der Art und Weise, wie das Licht einfällt. Schreiben hat auch mit trügerischem Licht zu tun, mit Schatten und mit Scheinbewegungen. Die Welt würde ganz anders aussehen, wenn George Bush Junior als Kind etwas weniger Walt Disney gelesen hätte, um sich stattdessen in Bücher zu vertiefen, die ihn verzweifelt zurückließen, ohne deutliche Unterscheidung der Guten und Bösen und ohne eine einfach zusammenzufassende Botschaft des Schriftstellers. Schreiben findet bei mir in der Grauzone zwischen den Dingen, von denen ich überzeugt bin, und den Dingen, von denen ich auch noch überzeugt sein könnte, statt. Intensität ist das Zauberwort. Vom Licht behauptet man, dass es intensiv sei, aber für die Dämmerung gilt dies meiner Meinung nach ebenso.
„Man muss Kindern Klarheit geben, und Hoffnung“, sagen die Leute, wenn ich ihnen erzähle, welche Bücher ich bevorzuge.
„Vielleicht im Leben selbst“, antworte ich dann, „aber nicht in der Literatur.“ Was hat der Leser von einem Autor, der seine Texte vereinfacht? Er spürt sofort, dass keine Erkenntnisse zu Tage getragen werden, sondern nur Beruhigendes. Beruhigung ist von Zeit zu Zeit notwendig, denn ohne das Gefühl von Sicherheit kann ein Kind schließlich keine Wurzeln schlagen, genauso wenig wie ein Erwachsener. Wenn wir allerdings immer nur beruhigen wollen, wird Beschwichtigen zur Gewohnheit. Einige Wahrheiten sind nun einmal beunruhigend. (Mein Sohn war ungefähr fünf Jahre alt, als er über seinen kleinen Bruder sagte: „Ich denke, dass Basil nicht weiß, dass er jemals sterben wird. Darum ist er glücklicher als wir.“ Ein paar Wochen später sagte er: „Mama, können wir die Welt verlassen, oder sind wir hier gefangen?“. Und noch im selben Monat: „Werden die Menschen in einer Million Jahren auch denken, dass wir dumm sind?“).
Wir neigen dazu, Kinder zu beschützen. Wir vergessen oft, dass sie dem Chaos auszusetzen auch eine Form des Beschützens ist. Kindern von Zeit zu Zeit einen Schubs zu geben, sie mit den Worten: „Geh nur, du kommst allein klar“ wegzuschicken, ist ebenso notwendig, wie sie zu beruhigen. Das hat vor allem die Ente gut verstanden. Sie lässt ihre Küken früh genug ins Wasser. Ich habe einmal in einem Park in Paris ein Küken kopfüber gehen sehen, während seine Mutter mit ihren anderen Jungen ungerührt weiterschwamm. Ein paar Pariser in meiner Umgebung machten sich schon bereit, in den Teich zu waten, als das Küken nach minutenlangem Gezappel plötzlich wieder aufrecht schwamm. Seitdem weiß ich, dass nicht alle Küken, die durch ihre Mutter zu Wasser gelassen werden, auch gut schwimmen können.
Literatur ist ungefährlich, verglichen mit dem tiefen Wasser, in das Enten gezwungen werden, die noch nie zuvor geschwommen sind. In einem Roman üben wir lediglich, das Unangenehme zu ertragen. Es ist nicht real, es ist nur Schein. Daher müssen wir damit aufhören, Literatur abzumildern, um sie für echt auszugeben, und stattdessen das Fiktionale betonen, das uns erlaubt, härtere und komplexere Wahrheiten zu vertreten, auch gegenüber Kindern (und Jugendlichen, aber sie haben bereits verstanden, dass in meiner Rede das Wort 'Kind' breit aufgefasst wird. ‚Kind’ umfasst für mich jede Altersgruppe, von der wir Erwachsenen meinen, dass sie ‚erzogen’ werden müsse).
In den fast zwanzig Jahren, die ich bereits für Kinder schreibe, habe ich ein verstärktes Bewusstsein für meine Vorstellung vom Kind entwickelt. Als ich sie besser kannte und verstand, habe ich sie mit meinem Menschenbild konfrontiert. Dem Blick des ‚Menschen’, der der Leser ist, Rechnung zu tragen, heißt, ihn alles sehen zu lassen, auch die suchende, zögernde Art und Weise, wie meine bescheidene Erkenntnis zu Stande gekommen ist. In De arkvaarders4, meinem letzten Buch, das von Noah und der Sintflut handelt, schreibe ich Folgendes:
...dass die schweigsamen, gedankenlosen Rrattika zu reden begannen. Ob groß ob klein, alle sprachen vom Wasser und der Überschwemmung. Die Kinder bekamen Alpträume. Sie wussten nicht, was Ertrinken war, doch ihr Vater hatte gesagt: „Wenn ihr nicht aufpasst, schließt sich bald das Wasser über euren Köpfen!“, und sie wachten nach Luft schnappend auf. Je mehr ihre Angst wuchs, die sie mit den steinalten Männern und Frauen teilten, die wussten, dass sie umherziehend keine Chance hatten und dass man sie mit ein paar Krügen Wasser und ein wenig Brot an einem schattigen Platz zurücklassen würde, desto mehr wuchs bei den Werftbewohnern die Erkenntnis, dass es mit Rücksicht auf die Kinder, die Alten, Kranken und Schwachen besser war zu schweigen. Auf fast wundersame Weise entstanden allerlei Erklärungen für die Worte des Bauherrn und kam niemand mehr zu der einzig richtigen Schlussfolgerung: dass viele sterben würden. Und mit dem Schweigen kam das Vergessen. Da es keine neuen Mitteilungen gab, die die alten bestätigten, geschah, was mit Unglücksbotschaften häufig geschieht: Sie werden aus dem Bewusststein gestrichen. Man findet Löcher in der Prophezeiung, Undeutlichkeiten, die die Vermutung bestätigen, dass es Lügen sind. Nach einer Weile schien das Unheil auch so weit entfernt, als sei es nicht für diese Zeit bestimmt, sondern für eine andere, nicht einmal die ihrer Kinder oder Kindeskinder. Der Bauherr lebte schon so lange, vielleicht wurde er noch doppelt so alt und gab es, wenn das Wasser kam, längst neue Lösungen, an die sie jetzt noch nicht dachten, oder neue Götter, Söhne des jetzigen, mit anderen Ansichten und Mitteln. Und was konnte man anderes tun als die täglichen Aufgaben erledigen, was hätten sie unternehmen können? Einen Aufstand vorbereiten? Aufhören zu schlafen und zu essen?
Am Anfang machte ich noch einen Versuch, sie an die Unglücksbotschaft zu erinnern. Ich erzählte ihnen, dass es auf dem Schiff sehr wenig Platz gab, dass nur wer sein eigenes Boot baute, eine Chance gegen die Flut hatte, doch ich erntete nur mitleidige Blicke, gleichgültig wie die von Reptilien. Sie spähten unter meine Kapuze und sahen, dass ich nicht eine von ihnen war. Eine Minderheit nahm meinen Rat ernst. Sie begannen Holz zu sammeln, doch obwohl sie schon jahrelang am Bau eines Schiffes mitarbeiteten, wusste keiner von ihnen, wie man ein Boot zusammensetzte. Schon bald blieb das Holz liegen und wurde für andere Zwecke benutzt. Und da die Zeit verstrich, ohne dass etwas geschah, geriet man in Euphorie. Die Werftbewohner hatten durch den Mist der vielen Tiere Berge von Brennstoff, sie verfügten über Unmengen von Wolle und Eier in Hülle und Fülle. Die Bienen gaben willig ihren Honig ab. Die Grasfresser waren zahm und ließen sich melken. Die Menschen richteten vor ihren Häusern Festmähler an. Sie luden Fremde ein; die Frauen, die mich vorbeigehen sahen, winkten mich heran und mehr als ein Mal geschah es, dass ich schon gegessen hatte, wenn ich nach Hause kam. Ich traf Leute jeglichen Schlags, sie kamen aus fernen Städten wollten sich hier niederlassen. Kleine Geschäfte, die mit wenigen Mitteln errichtet worden waren, blühten, Wanderer kamen und gingen nie wieder weg.
Dies ist eine harte, komplexe Wahrheit, die sicherlich nicht unumstößlich ist, die aber bei uns in Belgien durch die Wahlen von 2003, bei denen die Grünen eine katastrophale Niederlage erlitten, vorläufig bewiesen wurde. Haben die Ungläubigen letztendlich Recht, wenn sie ihr Leben im Angesicht des Unvermeidlichen so fortsetzen, wie es war? Ich weiß es selbst nicht so recht. Auf jeden Fall glaube ich keine Sekunde daran, dass Kinder durch Überlegungen dieser Art pessimistisch werden, oder trübsinnig, oder verwirrt. Wenn man die Suche zeigt, legt man die Wahrheit in die Zukunft. Dies ist die Hoffnung, die Autoren bieten können: Wir haben die Geschichte erzählt, und auch wenn sie pessimistisch klingt, zeigt die Tatsache, dass wir uns die Mühe gemacht haben, dass man sich, wenn es auch keine Wahrheit gibt, zumindest auf die Suche nach ihr begeben kann. Das heißt eigentlich: Die Wahrheit existiert noch nicht, auch nicht für den erwachsenen Schriftsteller, und selbst wenn sie nie gefunden wird, ist die Suche danach bereits lohnenswert. Das scheint mir ein Stück beruhigender als das Gefühl, dass die Wahrheit bereits existiert, die Wahrheit in Großbuchstaben geschrieben, aber dass man noch zu jung ist, um diese Wahrheit zu kennen.
Wer Kindern vorhält, dass „sie das alles später schon verstehen werden“, verurteilt sie zum Zauberstab. Wer Fantasieromane mag, weiß, dass Zauberkunst fast ausschließend in den Momenten der Erzählung angewendet wird, in denen die Figur feststeckt. Harry Potter riskiert von Hogwarts verwiesen zu werden, als er gegen die Verordnung zur Beschränkung der Zauberei Minderjähriger verstößt. Gezaubert wird fast ausschließlich in Situationen extremer Ohnmacht. (Erlauben sie mir, dass ich noch ein Mal meinen Sohn zitiere. Ich verspreche, es ist das letzte Mal. „Mama, der Nikolaus ist doch schon alt, oder? Ich sage: Ja, Junge, sehr alt. Er darauf: Was machen wir, wenn er tot ist?“ Mein Sohn war zu dem Zeitpunkt, als er diese Frage stellte, viereinhalb Jahre alt. Bereits jetzt spürt er, dass der Zauber unhaltbar ist und dazu verurteilt, durchbrochen zu werden).
In den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts entdeckte man in Neu-Guinea einen Volksstamm, der nie zuvor mit der Außenwelt in Kontakt gekommen war. Sofort wurden die Mitglieder dieses Stamms zum Studienobjekt unschätzbaren Werts, hoch gehandelt wegen ihrer Unberührtheit und bewundert für ihren Mut. Eines Tages versteckte sich ein Eingeborener in der Nähe der Landebahn der Flugzeuge, mit denen die Forscher hin und her flogen. Er hatte eine Liane bei sich, mit der er sich an einer Maschine festband, die zum Abflug bereit war. Einen Augenblick zuvor hatte er seinen nächsten Vertrauten mitgeteilt, dass er, egal was mit ihm geschehen würde, unbedingt wissen wolle, woher der fliegende Gegenstand komme. Die Entdeckungsreisenden verstanden nicht, wie so etwas passieren konnte. Sie hatten den Volksstamm gründlich erforscht, aber keiner von ihnen hatte sich gefragt, wohin der Blick des Eingeborenen sich richtete.
Einsicht zu erlangen kann eine Frage von Leben und Tod werden, auch für Kinder. Wenn ich sie frage, welche Nachricht sie zuerst hören wollen, die gute oder die schlechte, wollen sie ab einem Alter von sechs, sieben Jahren grundsätzlich erst die schlechte hören. Sie spekulieren darauf, dass das Gute das Schlechte kompensiert und nicht umgekehrt. Lieber wollen sie um das Unheil wissen, als nur seine Drohung zu spüren, genauso wie wir Erwachsenen, auch wenn es nur ein unsicheres Wissen ist. Drum sag schnell: Was ist die schlechte Nachricht? Dass die Wahrheit ständig geschaffen wird, dass alles, was ein bisschen nach einer Wahrheit aussieht, ein Verfallsdatum hat, dass es nicht eine Wahrheit gibt, sondern eine ganze Menge, die sich oft auch noch gegenseitig widersprechen, dass es dementsprechend nicht leicht ist, Kinder ins Leben einzuweihen. Und die gute? Dass auch im Kopf eines Kindes viel Platz ist, mega-krass viel mehr als wir meistens denken, so viel sogar, dass der Gebrauch eines Zauberstabs, um Probleme zu lösen, meistens gar nicht nötig ist.
Deutsche Übersetzung von Niels Kohrt, Anneke Nowak und Hille Ulrich, unter Leitung von Cornelia Leune